Tele-Tandem
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Anne Dussap-Köhler, OFAJ / DFJW, 2002
Das Wertesystem der Grundschule in Deutschland und Frankreich: Gekreuzte Blicke von Lehrern
Inhalt

 
 
Erziehungssysteme

Die Schule ist nur die Spitze vom Eisberg eines ganzen Systems, das von Werten, Strukturen und unterschiedlichen Regelungen bestimmt wird, die sich im Laufe der Geschichte durch die Abfolge unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse in einem jeden Land entwickelt haben. Ein Lehrer vergleicht das französische mit dem deutschen System und kommt zu folgendem Schluss: "Die Rolle des Schulsysstems ist die Erziehung zum "citoyen", zum Staatsbürger, während bei uns eher die freie Entfaltungsmöglichkeit der kindlichen Anlagen im Vordergrund steht." 18) Um bei der Entschlüsselung der Schulkultur im Nachbarland weiter zu kommen, ist es interessant einen Blick darauf zu werfen, wie sich die Schule als Erziehungssystem im Laufe der Geschichte eines Landes herausgebildet hat.


In Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der Deutschland brandmarkte, wollte man beim Wiederaufbau des Landes Sorge dafür tragen, dass sich eine solche Tragödie für Europa und eine solche Schande für Deutschland nicht wiederholen konnte. Der Schule und dem ganzen Erziehungssystem wurde dabei besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Hatte nicht die autoritäre Tradition, die sowohl an den Schulen als auch in den Jugendbewegungen vorherrschte, dazu beigetragen, junge Deutsche zu "produzieren", die sich folgsam und gehorsam der Sache Hitlers verschrieben und beispiellose Gräueltaten begingen? Ein ganzes Erziehungssystem musste überdacht und grundlegend neu ausgerichtet werden. Die Vorstellung von der Schule als einem Werkzeug des Staates zur Formung der Staatsbürger konnte nicht mehr hingenommen werden. Das NS-Regime war das einzige zentralisierte System in der deutschen Geschichte gewesen. Um die staatlichen Einflussmöglichkeiten zu verringern, wurden Bildung und Erziehung in der BRD dezentralisiert. Jedes Bundesland verfügt über ein eigenes "Kultusministerium", das im Rahmen allgemeiner bundespolitischer Zielsetzungen Lehrpläne, Schulformen, Abschlussarten vorgibt und Lehrer einstellt, etc. Folglich können die Schulformen von einer Region zur anderen unterschiedlich sein, vor allem was die Zahl der Schuljahre, die Lehrinhalte, die gesetzlichen Vorschriften und auch den Fremdsprachenunterricht, etc. anbetrifft.

Es ging damals um weit mehr als nur um eine einfache Umstrukturierung. Man musste die Ausrichtung und die Fundamente des gesamten Schulwesens revidieren, um eine pädagogische Philosophie und Deontologie als Grundlage für eine neue Schulkultur zu entwickeln, die im Gegensatz zur autoritären Tradition stand, die bis 1945
19) vorherrschte. Dieser Reflexionsprozess führte dazu, dass sich eine pädagogische Strömung herausbildete, die eng mit dem Namen des Pädagogen Nohl verbunden ist, und die die Beziehung zwischen "Erzieher und Edukanden", zwischen Lehrer und Schüler in den Mittelpunkt stellt. Bis heute basiert die wissenschaftliche Pädagogik auf diesem Modell. Die Grundlage der Erziehung ist demnach das persönliche Verhältnis oder vielmehr das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen einem Erwachsenen und einem Heranwachsenden. Aufgrund dieser Beziehung hilft der Lehrer dem Kind, dem Jugendlichen seine Potenziale und Fähigkeiten zu entwickeln. Die Schule soll dem Kind helfen, ein verantwortungsbewusster und kritischer Erwachsener zu werden und sie muss dafür die notwendigen Mittel bereitstellen. Der Erzieher (der Lehrer) muss die Selbstentfaltung und die individuelle Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sichern. Er muss das Kind gegen missbräuchliche Vorschriften wappnen und ihm zu einem kritischen Geist gegenüber der Gesellschaft verhelfen. Vor diesem Hintergrund versteht man leicht, warum Disziplinfragen nicht durch auferzwungene Vorschriften, sondern durch Verhandlungen mit den Betroffenen geregelt werden. In diesem Erziehungskonzept orientiert sich der Unterricht am Individuum, und kognitives Lernen bildet den "Mehrwert" zur persönlichen Entwicklung der Fähigkeiten eines jeden Schülers.


In Frankreich

Das französische Schulwesen hat sich kontinuierlicher herausgebildet, und zwar mit der Republik und für die Republik. Die Schule hat in Frankreich eine in hohem Maße nationale Identität (man spricht von der "Education Nationale") angenommen. Geprägt wurde diese Identität durch Werte wie Laizismus, Gleichheit und Staatsbürgerlichkeit, also durch Werte, die eng mit der Republik verknüpft sind

- Die Schule als laizistische Institution auf der Grundlage des Gesetzes von 1905 20) ; danach ist jede Kundgebung und Ausübung religiöser Überzeugungen innerhalb der Schule verboten. Die Laizität gewährleistet so die Gewissens- und Religionsfreiheit, indem sie Glauben und religiöse Handlungen dem Bereich des Privatlebens 21) zuweist. Religion wird also im Rahmen der Schule 22) nicht unterrichtet.

- Staatsbürgerlichkeit als Erziehungsziel: die Institution Schule sorgt dafür, dass die künftigen französischen Staatsbürger lernen, wie man zusammenlebt und wie man im jeweiligen Umfeld handelt.

- Das Gleichheitsprinzip im Schulwesen: der Unterricht muss allen Kindern Frankreichs und Navarras unabhängig von ihrer kulturellen, sozialen und regionalen Herkunft die gleichen Möglichkeiten bieten, um zu einem zufrieden stellenden Bildungsgrad zu gelangen. Es sei daran erinnert, dass die Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Aufgabe betraut war, das noch sehr bäuerlich geprägte Land
23) auf kultureller Ebene zu vereinheitlichen und das Bildungsniveau der Franzosen anzuheben. An der Gleichheit als hohem Wert wurde festgehalten, und so hat die Schule auch heute noch die Aufgabe, die sozialen Ungleichheiten 24) einzudämmen.

Man kann das französische Erziehungssystem insofern als kollektivistisch bezeichnen, als dass die Kinder als Gleiche hinsichtlich ihrer Rechte auf Bildung angesehen werden. Die kulturellen, sozialen und individuellen Besonderheiten finden nur dann Beachtung, wenn das Kind mit dem so genannten "normalen" Schulbetrieb nicht zurecht kommt.

Es gibt nur das eine und einheitliche französische Bildungssystem mit dem Bildungsministerium in Paris als Mittelpunkt. Dort wird die Erziehung von Tausenden von Schülern organisiert und inszeniert, indem Lehrpläne und Diplome festgelegt und regelmäßig landesweite Auswertungen, etc. durchgeführt werden. Alle Kinder können dieselbe Schullaufbahn durchlaufen, unabhängig davon, ob sie in Paris, in Marseille, in Brest oder gar in einem Übersee-Departement wohnen. Der Lehrer ist ein Beamter, ein Vertreter der Institution (noch bis vor kurzem sprach man von einem Grundschullehrer als einem "instituteur"
25)) und folglich des Staates. Meist sieht er in seinem Beruf eine wahre Berufung 26) und übt dank seines Status eine gewisse Autorität auf die Schüler aus.


Unterschiedliche Vorstellungen von Verantwortung

« …nous sommes prisonniers d’un système où nous devons endosser tant de responsabilités que nous ne pouvons faire confiance aux élèves »
27). In Frankreich steht ein Schulkind unter der Verantwortung des Staates 28). Als dessen Vertreter muss der Lehrer nicht nur für die Bildung und die Erziehung des Schülers sorgen, sondern auch für alle Zwischenfälle, Unfälle und Schäden Verantwortung tragen, die das Kind im Rahmen schulischer Aktivitäten erleidet. Wenn alle vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen eingehalten worden sind, liegt die Verantwortlichkeit beim Lehrer.

Da der Staat für die Kinder während des Schulbetriebs verantwortlich ist, wurde ein rigider und äußerst enger verwaltungstechnischer und rechtlicher Rahmen geschaffen, wodurch gegenwärtig jede schulische Aktivität durch eine Vielzahl von Vorschriften flankiert wird. Diese Vorschriften beschreiben sehr genau die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Sicherheitsvorkehrungen, die für jede Aktivität berücksichtigt werden müssen. Auch aus diesem Grund dürfen die Schüler das ummauerte Schulgelände nicht betreten und verlassen, wie es ihnen gefällt. Es ist notwendig, dass ein Elternteil oder die Person, die das Kind normalerweise von der Schule abholt, den Lehrer von seiner Verantwortung für das Kind entbindet. Vor diesem Hintergrund entsteht ein ganzes Regelwerk, das die Kinder während des Schulbetriebs schützen sollen. Dazu gehört die Beaufsichtigung der Schüler während der Pause, beim Betreten und Verlassen der Schule, die "plans vigipirate"
29), etc.

Die Schule in Frankreich ist kein zugänglicher Ort: Die Türen sind außerhalb der Einlass- und Auslasszeiten verschlossen. Man braucht eine Genehmigung, um in die Schule zu gelangen. Im Übrigen endet in der französischen Schulkultur die Rolle der Eltern an der Schulpforte. Die jüngsten Bemühungen des Bildungsministeriums, einen regelmäßigen Austausch zwischen den Eltern, der Schule und dem Schüler in Gang zu bringen, fanden ein sehr schwaches Echo bei den Lehrern und auch bei den Eltern selbst.

In Deutschland hat der Lehrer zwar auch die Aufgabe, die Schüler zu beaufsichtigen, aber man macht ihn nicht im engeren Sinne des Wortes verantwortlich für das Kind. Seine Verantwortung ist im Wesentlichen moralischer Natur. Er soll dem Kind helfen, seine Fähigkeit, seine Eigenständigkeit und seinen kritischen Geist zu entwickeln, um aus ihm einen Staatsbürger, einen engagierten gesellschaftlichen Akteur zu machen. Diese Verantwortung übernimmt er voll und ganz, und zwar gegenüber den Eltern und auch mit ihnen zusammen. Tatsächlich muss er für seinen pädagogischen Ansatz einstehen und offen über ihn diskutieren können. Die Eltern haben ein Recht darauf, einen kritischen Blick auf alles zu werfen, was in der Schule geschieht. Sie machen sich Gedanken über pädagogische Fragen, diskutieren mit und werden dazu auch ausdrücklich ermuntert. Der Lehrer wird als Partner der Eltern bei der Erziehung des Kindes angesehen. Es gibt keine scharfe Trennung zwischen der Erziehung (in der Familie) und der Bildung (in der Schule), sondern einen fließenden Übergang zwischen beiden Bereichen, wobei allerdings der Erziehung ein höherer Stellenwert beigemessen wird.


Die Schule: Bruch oder Fortführung der Erziehung in der Familie?

Das Erziehungssystem ist der Ort, an dem das Kind lernt mit seinesgleichen auszukommen, und wo es mit Erwachsenen, die nicht seine Eltern sind, konfrontiert wird. Die Schule ist für das Kind eine wichtige Sozialisationsinstanz. Allerdings wird diese Lebensphase in Frankreich und in Deutschland völlig anders erlebt. Die französische Soziologin Béatrice Ludwig hat über die Repräsentationen der alltäglichen Trennung von Mutter und Kind in Frankreich und Deutschland
30) gearbeitet. Sie zeigt insbesondere, dass in Frankreich die sehr frühe Sozialisierung (die manchmal schon im Alter von drei Monaten beginnt) als etwas Notwendiges und Positives erlebt wird: das Kind erlangt eine Autonomie, indem es ohne seine Mutter eigene Vorstellungen von der Welt entwickelt. Diese "Abnabelung" wird im Übrigen in hohem Maße von Erziehungsexperten (Psychologen, Psychoanalytiker, Erzieher, etc.) gefordert und abgesegnet.
In Deutschland wird die Trennung von Mutter und Kind als ein Trauma erlebt, das man so lange wie möglich hinausschieben sollte. Nicht selten vollzieht sich diese Trennung erst, wenn das Kind fünf Jahre ist und in den Kindergarte
31) geht. Die Sozialisation des Kindes vollzieht sich schrittweise und gemeinsam mit der Mutter, die in das enge Beziehungsgeflecht zwischen Mutter und Kind zuerst die Familienmitglieder, dann einen Kreis von Freunden (Krabbelgruppen, in denen das Kind begleitet von seiner Mutter andere Kinder treffen kann 32)), dann Menschen aus dem näheren Umfeld und schließlich den Kindergarten mit einbezieht. Später folgt die Schule mit einem täglichen Zeitvolumen, das deutlich hinter dem in Frankreich zurückbleibt, da das Kind nachmittags zu Hause ist.

Zu diesen unterschiedlichen Repräsentationen kommen die verschiedenartigen Aufgaben, die den Schulen bei der Erziehung der Kinder zukommen. Auf der französischen Seite spielen der Lehrer und durch ihn auch die Schule und der Staat eine entscheidende Rolle bei der Erziehung der Kinder: «L’enfant m’est confié par une famille qui s’en remet totalement à moi pour son éducation. Je suis son tuteur»
33). Die Entwicklung, die Jules Ferry Anfang des 20. Jahrhunderts in Gang setzte, zielte darauf, allen den gleichen Zugang zur Bildung zu ermöglichen, sogar den Kindern, deren Eltern über kein ausreichendes Bildungsniveau verfügten, um ihre Kinder zu erziehen. Man stößt übrigens durch diese Prinzipien auf die republikanischen, gleichheitlichen Werte, die der französischen Schulkultur zugrunde liegen. Die Erziehung wird also tatsächlich der Schule übertragen, sowohl im Bereich der moralischen als auch der zivilen und strafrechtlichen Verantwortlichkeit.

In Deutschland ist der Gedanke, dass der Staat ein wesentlicher Akteur bei der Erziehung der Kinder sein könne, unvorstellbar, weil er Erinnerungen an die Instrumentalisierung der Kinder für das totalitäre NS-Regime weckt. Die Schule nimmt nicht denselben Platz in der Erziehung der Kinder wie in Frankreich ein. Sowohl der zeitliche Umfang als auch das erzieherische Gewicht der Schule ist deutlich geringer. Und sie ist dem kritischen Blick der Eltern ausgesetzt, denen die entscheidende Erzieherrolle zukommt. Juristisch gesehen ist die Verantwortlichkeit des Lehrers keine Verpflichtung.

Mit diesen wenigen Bemerkungen wird nicht der Anspruch erhoben, eine umfassende vergleichende Analyse der beiden Systeme zu liefern. Aber sie bieten doch einige Schlüssel zum Verständnis der beiden Schulkulturen. Natürlich sind die Schulsysteme nicht starr, sondern hängen von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Gesellschaften ab, deren Bestandteil sie sind. Außerdem könnten diese Unterschiede mittel- oder langfristig verblassen, vor allem in Folge der Angleichung europäischer Normen und angesichts der Entwicklung im Bereich der Informationstechnologien, die neue Lernformen bieten, die das traditionelle pädagogische Paradigma der Lehrer-Schüler-Beziehung erschüttern.

Interessant ist aber die Reaktion auf diese Unterschiede: In dem kritischen, ja bisweilen sogar abschätzigen Blick des Lehrers, der mit dem andersartigen System konfrontiert wird, spiegelt sich das Gefühl, dass die eigene berufliche und persönliche Identität (die Vorstellung von Pädagogik, die gesellschaftliche Stellung des Lehrers, das Lehrer-Eltern- und das Lehrer-Kinder-Verhältnis) in Frage gestellt wird. Die Erfahrung dieser Infragestellung kennzeichnet eine der notwendigen Etappen der Anpassung an die neue Umgebung und der Öffnung gegenüber neuen pädagogischen Lehrformen, die den Unterrichtsstil bereichern ("j’applique maintenant une pédagogie mélangée")
34).

 
 

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