Inhaltsverzeichnis |
3. Die Rolle der Sprache
Auf dem Hintergrund solcher genereller Überlegungen ergibt sich eine Sicht auf die Rolle der Sprache, die weniger instrumentell als kulturell ist. Sprache ist primär nicht ein Verständigungsmittel, sondern eins von mehreren semiotischen Systemen (wie z.B. Mimik, Gestik, Kleidung oder die verschiedenen Formen alltäglichen künstlerisch-ästhetischen Ausdrucks), in und mit denen soziales Handeln überhaupt erst möglich wird. Sprachlicher Austausch in konkreten Situationen ist also soziale Praxis, in und mit der Identitäten hergestellt (und nicht bloß "kommuniziert") werden und Gruppen von Personen sich als Gruppen konstituieren. "Wissen über Sprache" ist dementsprechend kein Wissen über Regeln des grammatisch korrekten Einsatzes sprachlicher Zeichen, sondern Wissen über die Möglichkeiten sozialen Handelns, die durch die Nutzung verschiedener, sehr flexibler Kombinationen sprachlicher Zeichengruppen mit anderen semiotischen Systemen entstehen. Dies betrifft etwa die situations- und personenangemessene Verwendung verschiedener Sprachregister, die Wahl des richtigen Gastgeschenks sowie die sprachlichen Rituale beim Überreichen und Entgegennehmen oder aber die Berücksichtigung der richtigen Länge von Sprechpausen und Schweigephasen, mit denen unseren Gesprächspartnern der notwendige Handlungsraum gewährt wird. In dieser Perspektive ist Sprache kulturell gebunden, sie macht einerseits kulturelle Differenz unmittelbar erfahrbar und sie ist andererseits ein Mittel zur Schaffung neuer Kulturräume in zwischenmenschlichen Beziehungen. Französische und deutsche Kinder und Jugendliche passen sich nicht jeweils dem Sprachgebrauch des anderen an, sondern sie entwickeln miteinander eine Form sprachlichen Handelns, die neben "dem" Französischen und "dem" Deutschen als eine dritte, neue und kreativ nutzbare Form entsteht und für die Belange des Austausches genutzt werden kann. Dieses geschieht dann besonders erfolgreich, wenn das Bewusstsein von der Kulturgebundenheit von Sprache als sozialem Handeln bei den Teilnehmern der Begegnungen gefördert wird. Die Aufmerksamkeit für die Differenz ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Perspektivenvielfalt und für jede Art von Lernprozess, also auch für den Spracherwerb. Ähnliches können wir übrigens im Unterricht in Klassengruppen beobachten, auch dort schaffen sich die Beteiligten ihr eigenes sprachliches System, mit dem sie für die Bedürfnisse der "Klassenkommunikation" agieren können. Die theoretischen Grundlagen einer solchen Perspektive liegen in den Untersuchungen zur sogenannten exolingualen Kommunikation (womit Gespräche zwischen Partnern verschiedener Herkunftssprachen mit unterschiedlicher Kompetenz in der aktuellen Kommunikationssprache gemeint sind) und zum Spracherwerb in nicht-schulischen sozialen Handlungsfeldern, die in die Vorstellungen des Jugendwerks zur "animation linguistique" und zur Tandemmethode eingegangen sind.
|
||
|